Das Leben ist eine Leihgabe von unantastbarem Wert

 

Aktive Sterbehilfe und Suizid aus der Sicht der jüdischen Medizinethik

 

Von Yves Nordmann, Arzt und Medizinethiker, Zürich*

 

Die Debatte um die Sterbehilfe hat in jüngster Zeit neue, nicht ungefährliche Anstösse bekommen. In Holland sind durch die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe die letzten moralischen Schranken in diesem Zusammenhang bereits gefallen. Und der Schweiz droht nach der parlamentarischen Initiative von Nationalrat und Krebsspezialist Franco Cavalli eine ähnliche Entwicklung. Der folgende Beitrag möchte einige Gedanken in die Diskussion einbringen aus Sicht der jüdischen Medizinethik, für die die aktive Sterbehilfe keinesfalls eine Option darstellt, leidenden Patienten zu helfen.

 

Nachdem in den Niederlanden vor kurzem die aktive Sterbehilfe legalisiert worden ist, wird auch in der Schweiz wieder vermehrt über dieses delikate Thema diskutiert. Bereits sind politische Bestrebungen im Gang, die aktive Sterbehilfe auch bei uns gesetzlich nicht mehr zu verbieten. Eine Auseinandersetzung mit dieser schwierigen Problematik erscheint daher ausserordentlich notwendig, denn schliesslich geht es bei der Debatte um die Sterbehilfe auch immer um die ganz grundsätzliche Frage nach dem «richtigen» Umgang mit dem Leben. In diesem Zusammenhang sind auch religiöse Wertvorstellungen von grosser Bedeutung.

 

Tora, Talmud und Halacha als Autorität

 

Die jüdische Medizinethik beruht auf einer Tradition, die mehrere tausend Jahre alt ist. Immer wieder kann mit Erstaunen festgestellt werden, dass all die Probleme, die uns heute als völlig neu erscheinen, bereits in der Tora und dem Talmud, den Quellen der jüdischen Tradition, erörtert wurden. Die jüdische Medizinethik enthält grundlegende Prinzipien der Medizin, wie den unantastbaren Wert und die Heiligkeit menschlichen Lebens, die Verpflichtung des Arztes, den Kranken zu heilen, und des Kranken Verpflichtung, nach Heilung zu suchen. Dabei geniesst die jüdische Medizinethik in weiten Kreisen hohes Ansehen und grosse Autorität. Dies könnte unter anderem auch daran liegen, dass in der jüdischen Religion keine klare Trennlinie zwischen Ethik und Gesetz existiert.

Jegliche Beschäftigung mit ethischen Problemen im Rahmen des jüdischen Gesetzes, der sogenannten Halacha, geht nur über ein Studium der oben erwähnten Quellen, also Tora und Talmud sowie ihrer Kommentare. Es ist also gemäss der Denkweise der jüdischen Medizintechnik nicht möglich, moralische Probleme der Medizin auf der Basis von persönlichen Gefühlen und Wertvorstellungen zu lösen, sondern es bedarf der eingehenden Analyse des jüdischen Gesetzes, durchgeführt durch rabbinische Autoritäten, deren Entscheidungen dann zu respektieren sind. Dabei reicht eine schlichte Vertrautheit der Rabbiner mit den halachischen Quellen nicht aus. Vielmehr müssen in jedem spezifischen Fall die jeweiligen Umstände in die Überlegungen mit einbezogen werden, es muss also von Fall zu Fall entschieden werden.

 

Absoluter Wert menschlichen Lebens

 

Einer der zentralen Grundsätze des jüdischen Glaubens liegt in der Auffassung, dass menschliches Leben Heiligkeit sowie absoluten, unantastbaren und unendlichen Wert besitzt. Rabbiner Lord Immanuel Jakobovits (1921-1999), ehemaliger Oberrabbiner von Grossbritannien und Experte auf dem Gebiet der jüdischen Medizinethik, hat eine treffende Beschreibung dieses Prinzips formuliert: «. . . the value of human life is infinite and beyond measure, so that any part of life - even if only an hour or a second - is of precisely the same worth as seventy years of it, just as any fraction of infinity, being indivisible, remains infinite. Accordingly, to kill a decrepit patient approaching death constitutes exactly the same crime of murder as to kill a young, healthy person who may still have many decades to live» (Medical Experimentation on Humans in Jewish Law, in: Rosner/Bleich, Ed. Jewish Bioethics, New York 1979).

Hier wird die Grundhaltung der jüdischen Medizinethik gegenüber der Sterbehilfe sehr klar deutlich: Da auch der Bruchteil einer Unendlichkeit eine Unendlichkeit ist, besitzt jeder Moment des menschlichen Lebens den gleichen, unendlichen Wert. Würde eine Person, die noch wenige Tage oder Stunden zu leben hat, weniger Wert besitzen als ein Mensch, der aller Voraussicht noch in 70 Jahren leben wird, so würde der unendliche Wert menschlichen Lebens seinen absoluten Charakter verlieren und relativ werden. Er würde relativ zur Lebenserwartung, relativ zum Gesundheitszustand oder relativ zum Nutzwert für die Gesellschaft eingestuft werden.

Beliebige, willkürlich gewählte Kriterien könnten herangezogen werden, um über den «Wert» oder «Unwert» eines menschlichen Lebens zu befinden. Es käme zu einer Einteilung von Menschen in höhere und niedrigere Klassen, in Menschen, die einen berechtigteren Anspruch auf Leben haben, und solche, die keinen Anspruch auf Leben mehr besitzen. Es bestünde die Gefahr, in ein ähnliches Wertsystem abzugleiten, wie es noch vor kurzer Zeit in einem der dunkelsten Kapitel der Weltgeschichte Geltung beanspruchte. Es darf so nicht erstaunen, dass gerade die jüdische Religion der Problematik der Sterbehilfe mit grösster Sensibilität begegnet. Der Philosoph Jeshajahu Leibovitz drückt dies in eindrücklichen Worten aus: «Die Frage, ob ein Leben lebenswert ist, darf es nicht geben» (Leibovitz/Shashar: Gespräche über Gott und die Welt. Frankfurt a. M./ Leipzig 1994).

 

Der Sterbende im Talmud

 

Bereits in frühen jüdischen Quellen wird der Umgang mit dem Sterbenden eindeutig beschrieben. So heisst es im Talmudtraktat Semachot (1:1-4): «Jemand, der am Sterben ist, wird in jeder Beziehung wie ein Lebender betrachtet . . . Derjenige, der ihn [den Sterbenden] berührt und bewegt, der vergiesst Blut . . . Dies kann mit einer schwachen Flamme verglichen werden; sobald eine Person sie berührt, erlöscht sie. So auch hier: Wer die Augen eines Sterbenden schliesst, wird so angesehen, als ob er ihm seine Seele genommen hätte . . .» (Übersetzung Y. Nordmann).

Aus dieser Quelle geht es sehr eindrücklich hervor, wie streng die Gesetze im Zusammenhang mit dem Sterbenden aus jüdischer Sicht gefasst sind: Dem obersten Prinzip des unendlichen Wertes menschlichen Lebens folgend, ist es verboten, den Tod eines Sterbenden zu beschleunigen. Es handelt sich hierbei nur um eines der Grundprinzipien, welche den jüdischen Umgang mit der Problematik der Sterbehilfe charakterisieren.

Ein zweites, ganz zentrales Grundprinzip liegt in dem in der Tora mehrfach betonten Tötungsverbot: Aus Sicht des jüdischen Gesetzes ist es generell verboten, einen Menschen umzubringen. Der einzige Fall, in dem dies doch erlaubt sein könnte, tritt in Notwehrsituationen ein: Wenn es sich beim Umzubringenden um einen potenziellen Mörder handelt und einzig durch dessen Tötung der eigene Tod oder der eines anderen Unschuldigen verhindert werden kann, so ist dies gerechtfertigt, falls keine andere Möglichkeit besteht, den potenziellen Mörder von seiner Tat abzuhalten. Das Umbringen eines Menschen aber, der nicht eine unmittelbare Lebensbedrohung für andere darstellt, gilt als Mord, ob es sich dabei nun um ein Neugeborenes, einen gesunden Erwachsenen oder einen Sterbenden handelt.

 

Gibt es ein Recht, über den eigenen Körper zu verfügen?

 

Unter das Tötungsverbot fällt explizit auch das Verbot der Selbsttötung. Der Suizid ist selbst unter der Absicht verboten, einem anderen Menschen durch diese Tat das Leben zu retten. Gemäss der jüdischen Tradition besitzt der Mensch nicht ein absolutes Recht, über seinen Körper zu verfügen. Gott hat jedem Menschen einen Körper und eine Seele für eine bestimmte Zeit zur Verfügung gestellt, und jeder Mensch ist verantwortlich dafür, zu dieser «Leihgabe» Sorge zu tragen.

Aus jüdischer Sicht ist es deshalb grundsätzlich nicht erlaubt, frei über seinen Körper zu verfügen, sich willentlich Verletzungen zuzufügen oder Selbstmord zu begehen. Dieses Konzept der «Leihgabe» des menschlichen Lebens steht ganz im Gegensatz zum derzeitigen Trend der säkularen Ethik, bei welcher der Autonomie des Patienten immer höherer Stellenwert eingeräumt wird. Es ist jedoch ein schwerwiegender Irrtum, anzunehmen, dass die Entscheidung eines Individuums, sich umzubringen, nur dieses selbst und nicht die Gesellschaft als Ganzes betreffe. Verschiedene Untersuchungen im Zusammenhang mit der Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids haben beispielsweise gezeigt, dass alten und armen Menschen, die sich ohnehin bereits am Rande der Gesellschaft befinden, am häufigsten das «Recht zu sterben» zugebilligt beziehungsweise nahe gelegt würde. Der moralische Druck auf diejenigen, die trotz ihren Leiden und trotz ihrer «kostenverursachenden Wirkung» weiterleben möchten, würde gemäss diesen Studien steigen. Es stellt sich auch die Frage, wem durch eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe beziehungsweise des ärztlich assistierten Suizids letztlich geholfen würde: dem leidenden Individuum, welches unsere dringende emotionale Unterstützung benötigt, oder der Gesellschaft, welche die Probleme der stetig steigenden Gesundheitskosten und der limitierten Ressourcen zu lösen versucht und sich dabei der «unbequemen» Patienten auf «einfache» Art und Weise entledigen könnte?

 

Besorgter Blick nach Holland?

 

«Die Entscheidung des niederländischen Parlaments, das Tötungsverbot in bestimmten Fällen aufzuheben und ärztlich gestützte Euthanasie zuzulassen, rührt an den Grundfesten einer humanen Gesellschaft», kommentierte der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Jörg-Dietrich Hoppe, die Entwicklung in Holland. Die bisher gemachten Erfahrungen dort lehren uns denn auch, dass die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe mehr als bedenkliche Konsequenzen mit sich bringt: Die Ausweitung der Regelung auch auf behinderte Neugeborene und Kinder sowie auf Patienten mit psychischen Krankheiten ist nur ein Beispiel.

Zudem wurden allein in den letzten Jahren Tausende Fälle von «aktiver Sterbehilfe» bekannt, welche ohne den ausdrücklichen Wunsch von Patienten durchgeführt wurden. Von einigen niederländischen Politikern wird gar eine ausdrückliche Meinungsbekundung der Patienten gefordert, falls diese keine aktive Sterbehilfe wünschten. Die Entwicklung in Holland lässt also schlimmste Befürchtungen wahr werden: «Tötung auf Verlangen» wird, wie die Juristin Birgit Reuter in ihrer kürzlich erschienenen Doktorarbeit belegt, von niederländischen Ärzten nicht nur an Kranken vollzogen, die zu Willensäusserungen nicht fähig sind, sondern zum Teil sogar an Entscheidungsfähigen, die man gar nicht erst fragt.

Wohin wird uns diese Entwicklung führen? Sollten wir aus den in Holland gemachten Erfahrungen nicht unsere Lehren ziehen? Aus der Sicht der jüdischen Medizinethik ist klar, dass grundlegende Prinzipien wie die Unantastbarkeit und Heiligkeit menschlichen Lebens sowie das biblische Verbot der Tötung und der Selbsttötung auf keinen Fall aufgegeben werden dürfen. Die Geschichte zeigt uns, dass das Überleben einer Zivilisation auch von der Stärke ihrer moralischen Wertvorstellungen abhängt.

* Der Autor ist Verfasser des Buches «Zwischen Leben und Tod - Aspekte der jüdischen Medizinethik», Verlag Peter Lang, Bern 1999/2000.

 

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Zeitfragen, 15. September 2001, Nr.214, Seite 93

 

<< >>