Keine Euthanasie bei Lebensmüden

Niederländischer Hausarzt in zweiter Instanz verurteilt

vau. Amsterdam, 7. Dezember

Die Amsterdamer Berufungskammer hat einen Hausarzt wegen Euthanasie an einem lebensmüden alten Mann für schuldig befunden. Im vergangenen Jahr hatte ein Gericht in der niederländischen Stadt Haarlem in erster Instanz noch zugunsten des Arztes geurteilt. Philip Sutorius hatte dem früheren sozialdemokratischen Senator Edward Brongersma im April 1998 Sterbehilfe geleistet. Der damals 89-jährige Patient hatte zwei Jahre früher einen Selbstmordversuch unternommen. Der Zustand seines Patienten habe sich täglich verschlechtert, weil er unter anderem sämtliche Freunde und Familienmitglieder verloren habe; das vom Mediziner vorgebrachte Argument, für seinen Patient habe, bedingt durch dieses unerträgliche Leiden, keine Hoffnung bestanden, wurde durch das Amsterdamer Appellationsgericht als vage und undeutlich bezeichnet. Aus diesem Grunde entspreche die Vorgangsweise des Arztes nicht dem Nachkommen einer klassischen Anfrage auf Sterbehilfe. Brongersma litt an zahlreichen altersbedingten, nicht aber an ernsthaften physischen oder psychischen Krankheiten.

Das Gericht verzichtet allerdings auf die Auferlegung einer Strafe. Der Arzt habe aus grosser Anteilnahme am Schicksal seines Patienten und aus Mitleid und damit gewissenhaft gehandelt. Da es sich ferner um einen Musterprozess handle, wäre ein Strafmass fehl am Platz, argumentierten die Richter. Sutorius hat nun die Möglichkeit, den Fall an das höchste niederländische Gericht weiterzuziehen; ein entsprechendes Urteil dürfte allerdings noch Jahre auf sich warten lassen. Die Niederlande hatten Anfang Jahr als erstes Land Sterbehilfe unter strikter Einhaltung von Auflagen zugelassen. Euthanasie ist allerdings nach wie vor im Strafgesetzbuch verankert.

Der entsprechenden Gesetzesanpassung war eine mehr als 20-jährige Debatte zur Sterbehilfe vorausgegangen. Das jetzt gefällte Urteil zeige deutlich auf, dass die Anwendung von Euthanasie in den Niederlanden an klare Bedingungen geknüpft sei, hiess es seitens von Rechtsgelehrten. Anders wird die Aussprache von der Vereinigung NVVE, die sich in den vergangenen Jahrzehnten für eine straflose Sterbehilfe stark gemacht hat, interpretiert. Ärzte seien nun weniger schnell bereit, Euthanasie zu leisten, oder verzichteten künftig möglicherweise auf die gesetzlich vorgeschriebene Meldepflicht. Gesundheitsministerin Els Borst hatte sich Anfang Jahr für die sogenannte Drion-Pille stark gemacht, die kranken und lebensmüden alten Menschen zur Beendigung ihres Lebens abgegeben werden sollte. Die Ministerin wurde allerdings von der Regierung und vom Parlament sofort zurückgepfiffen.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Vermischte Meldungen, 8. Dezember 2001, Nr.286, Seite 64

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